Erklärung am Beginn der neuen Legislatur des Chemnitzer Stadtrates

Fraktionserklärung zur Stadtratssitzung vom 02.09.2009, Volkmar Zschocke: "Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, sehr geehrte Damen und Herren, in diesem Superwahljahr liegen nun schon drei Wahlen hinter uns. Cirka die Hälfte der Wahlberechtigten nimmt regelmäßig daran nicht teil. 

Dies wird oft mit Politikverdrossenheit erklärt. Mit jeder Wahl wird es deshalb wichtiger, zu analysieren, welchen Anteil die Politik selber an dieser Situation hat. Liegt es wirklich am Desinteresse der Menschen? Oder tritt die Demokratie zu kompliziert, zu intransparent oder zu wenig selbstbewusst in Erscheinung? Lassen Sie mich das an zwei aktuellen Beispielen hinterfragen.

Erstens: Wie kompliziert ist eigentlich unsere kommunale  Demokratie?

In einem schwierigen Wahlverfahren haben wir in der konstituierenden Sitzung Anfang August hier die Ausschüsse besetzt. Nun verlangt die Verwaltung die Neuwahl sämtlicher Gremien. Grund dafür ist eine angebliche Benachteiligung der Linken bei der Ausschussbesetzung, Anlass bietet ein Dickicht von sich widersprechender Rechtssprechung, welche die Bildung von Zählgemeinschaften bei der Besetzung kommunaler Ausschüsse mal erlaubt, mal für unzulässig erklärt. Dies kann dazu führen, dass wir Grünen nicht mehr in den Ausschüssen mitarbeiten können, obwohl wir die inhaltliche Arbeit dort schon aufgenommen haben. Die inhaltliche Arbeit bleibt aber so oder so auf der Strecke, da die nächsten Stadtratssitzungen mit aufwändigen Wahlprozeduren angefüllt sein werden. Die Menschen werden sich – wie schon so oft- kopfschüttelnd abwenden und uns vorwerfen, dass wir uns nur mit uns selbst beschäftigen, anstatt mit den anstehenden Problemen.

Zweitens: Mit welchem Selbstbewusstsein tritt die kommunale Demokratie in Chemnitz in Erscheinung?

Hier möchte ich das drohende Aus für das Experimentelle Karree im Reitbahnviertel als Beispiel anführen. Obwohl der Stadtrat mit großer Mehrheit dieses Karree will, ist die GGG nicht bereit, eine weitere Nutzung ihrer Objekte im Rahmen dieses Konzeptes vertraglich abzusichern. Und dass, obwohl der Stadtrat dem zu 100-Prozent kommunalen Unternehmen dazu eine eindeutige Weisung erteilt hat. Herr Nonnen, mit der Umsetzung dieser Weisung beauftragt, hält diese für nicht erforderlich und führt dazu verschiedene, wenig stichhaltige Argumente und Sachzwänge an. Meine Damen und Herren, wenn wir hier weiter tatenlos zuschauen, laden wir wieder die Schuld der Ignoranz und Diffamierung auf uns, wie unsere Vorgänger im ehemaligen Karl-Marx-Stadt, als Menschen wegen ihrer anderen Vorstellung von Kultur und städtischem Leben mit staatlichem Argwohn und Repressionen zu rechnen hatten. Die damalige Angst vor dem Experimentellen, die Angst vor dem Betreten von Neuland, die Angst vor dem Ausbruch aus kollektiver Mittelmäßigkeit steckt unsere Stadt offenbar bis heute in den Knochen. Meine Damen und Herren, der neue Stadtrat sollte am klaren Bekenntnis zu dem experimentellen Karree am gegebenen Standort und zu den Akteuren festhalten. Wir müssen dafür kämpfen, dass die Verträge mit der GGG weiterlaufen können und eine dauerhafte Lösung gefunden wird. Sollte das Experimentelle Karree scheitern, dann auch an einem kleinmütigen, zu wenig selbstbewussten Stadtrat und an seiner fehlenden Entschlossenheit, einmal gefasste Beschlüsse auch durchzusetzen. Chemnitz kann es sich nicht leisten, kreative, verantwortungsbewusste und intelligente junge Menschen, die hier ganz konkret für die Belebung der Innenstadt sorgen, so vor den Kopf zu stoßen und zu vertreiben.

Kompliziert, schwer verständlich, intransparent, zu wenig selbstbewusst. Und genau hier ist das gefährliche Einfallstor für die Kräfte, welche die demokratischen Verfahren grundsätzlich in Frage stellen. Mitten unter uns sitzen Vertreter von Parteien, die gezielt auf die Ablösung der Demokratie durch die Herrschaft einer imaginären "deutschen Volksgemeinschaft" hinarbeiten. In dieser Volksgemeinschaft haben dann Menschen anderer Hautfarbe und Herkunft, Homosexuelle und vor allem Andersdenkende keinen Platz mehr. Gerne stilisieren sich Vertreter dieser Parteien selbst zu Opfern der Ausgrenzung hoch, obwohl sie in den Parlamenten, sei es der Stadtrat oder auch der Landtag alle parlamentarischen Rechte nutzen können. Nicht das Verbot rechtsextremer Einstellungen oder der Aufbau demokratischer Hürden wie zum Beispiel die Anhebung der Fraktionsmindestgröße, sondern die Stärkung von Demokratie und Zivilgesellschaft sind das beste Mittel gegen die Ideologie von NPD oder Pro Chemnitz..

Dies ist zugleich auch der schwierigere Weg. Wer den Bürgerinnen und Bürgern mehr Möglichkeiten geben will, über die Wahlen hinaus über die eigenen Lebensverhältnisse zu bestimmen, muss sich von der Vorstellung des Durchregierens verabschieden. Wer diese Mitbestimmung will, muss zunächst leichten Zugang zu öffentlichen Informationen und umfassende Auskunftsrechte zu Verwaltungsverfahren für alle ermöglichen. Wer Bürgerbeteiligung nicht nur als Alibi versteht, muss handhabbare Beteiligungsformen und mehr Rechte auf Mitsprache rechtzeitig vor den Entscheidungen im Stadtrat anbieten. Das alles ist zeitaufwändig und mitunter nervenaufreibend. Der Preis den wir jedoch zahlen müssen, wenn wir das alles nicht tun, ist aus unserer Sicht viel zu hoch. Wir haben deshalb am 3. Juni 2009 hier einen Vorschlag zur Erarbeitung einer Bürgerbeteiligungssatzung mit verbindlichen Verfahren für Informationsbeschaffung und Bürgempfehlungen eingebracht. Diese dürfen nicht vom guten Willen der Oberbürgermeisterin oder der jeweiligen Ratsmehrheit abhängig sein. Auch unbequeme Bürgerbeteiligung zu ermöglichen, ist eine Pflicht des Staates und kein Gnadenakt.

Meine Damen und Herren, 20 Jahre nach der Wende sind viele Menschen gerade in unserer Stadt mit der kommunalen Demokratie unzufrieden. Ursprünglich engagierte Chemnitzer sind frustriert, weil ihre Empfehlungen, Anregungen oder Kritik ins Leere laufen. Sie fühlen sich von Rat und Verwaltung nicht ernst genommen. Die weitere Demokratisierung unserer Stadt gehört deshalb zu den wichtigsten Aufgaben in dieser Legislatur. Wir können zu weiterer Politikverdrossenheit und zum Rückzug der Menschen ins Private beitragen. Aber wir können auch dazu beitragen, dass sich wieder mehr Menschen in das politische Geschehen in unserer Stadt aktiv einmischen."

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