In Erinnerung an 89 den Blick auf die Gegenwart schärfen

Fraktionserklärung von Volkmar Zschocke zur Stadtratssitzung am 8.10.2009: "Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, sehr geehrte Damen und Herren, Anliegen und Absichten der gesellschaftlichen Bewegungen von 1989 sind mehr als nur Stoff für Ausstellungen und Gedenkveranstaltungen.

Ich möchte mich deshalb nicht in den Erinnerungsreigen des Jubiläumsjahres einreihen, sondern anhand von zwei Beispielen die hohe Aktualität der 89ziger Themen illustrieren:

Erstens: Angesichts des kalten Krieges, massiver Freiheitsbeschränkung und enormer Umweltverschmutzung und standen die Themen Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung im Mittelpunkt vieler damaliger Diskussionen. Die Suche nach konkreten Auswegen jenseits der herkömmlichen sozialistischen oder kapitalistischen Modelle verlor sich jedoch schnell im Taumel der Wiedervereinigung. So ist es nicht verwunderlich, dass in dieses konzeptionelle Vakuum das westdeutsche Gesellschaftskonzept hineinstoßen konnte. Inzwischen stehen wir vor dem Scherbenhaufen einer der größten Wirtschafts- und Finanzkrisen mit dramatischen Folgen für unser städtisches Gemeinwesen. Herr Nonnen reagiert wie ein Kämmerer reagieren muss und passt den Stadthaushalt vorsorglich dem Niedergang der öffentlichen Finanzen an. Doch diese Anpassung, meine Damen und Herren, ist nicht mehr lange möglich, wenn Bundes- und Landespolitik unter einem falsch verstanden Freiheitsbegriff grenzenlose Gier und grenzenloses Wachstum zulassen und fördern – zu Lasten der natürlichen Ressourcen, der nachfolgenden Generationen und der öffentlichen Haushalte. Die 89ziger Erfahrung ist hier in zweifacher Hinsicht aktuell: Sie zeigt, dass wir nicht alles im Land hinnehmen müssen, dass Widerstand und politischer Wandel möglich sind. Sie zeigt aber auch, dass die damalige Diskussion zur nachhaltigen Änderung unserer Wirtschafts- und Lebensweise dringender als je zuvor jetzt fortgesetzt werden muss.

Zweitens: Die Gründung der Piratenpartei ist Ausdruck der wachsenden Verunsicherung vieler Menschen im Hinblick auf die Bedrohung von Grund- und Bürgerrechten durch den Staat selbst. Seit einiger Zeit macht unter Datenschützern und Überwachungsgegnern der Begriff "Stasi 2.0" als Synonym für die Sicherheitspolitik der Bundesregierung die Runde. Eine ernsthafte Auseinandersetzung um Unterschiede und Parallelen zum Überwachungssystem der DDR findet dabei nicht statt.

In der Tat erleben wir derzeit, wie sich unter dem Eindruck einer diffusen Terrorismusgefahr die Bundesrepublik von einem Rechtsstaat zu einem Überwachungsstaat wandelt. Dieser Wandel geht einher mit immer mehr Einschränkungen individueller Freiheitsrechte. Eines möchte ich jedoch klar sagen: So gefährlich die Tendenzen der aktuellen Sicherheitspolitik auch sein mögen, der Vergleich mit dem systematischen Unterdrückungsapparat in der DDR ist mehr als problematisch.

Doch die Frage, wie viel individuelle Freiheit der Sicherheit geopfert werden muss, ist nach wie vor aktuell. Die 89ziger Erfahrung ist hier deshalb von so großer Bedeutung, weil sie hilft, den Wert von Freiheit und Demokratie zu erkennen. Denn anders als in der DDR gibt es heute die Möglichkeit, mit demokratischen und rechtlichen Mitteln überzogene Sicherheitspolitik zu korrigieren und sich so zur Wehr zu setzen. So erleben wir gerade, wie z.B. die heftig umstrittene Verschärfung der Chemnitzer Polizeiverordnung in den ersten Punkten schon wieder gelockert werden muss.

Sehr geehrten Damen und Herren, das motivierend klingende Versprechen "Arbeite mit, Plane Mit, Regiere Mit!" musste in der DDR zwangsläufig zur Farce verkommen. Denn es richtete sich nur an die Menschen, welche bereit waren, sich den Systemvorgaben anzupassen und unterzuordnen. Das ist heute anders. Der Zugang zu politischer Mitbestimmung und Beteiligung steht allen Bürgerinnen und Bürgern offen, selbst denen, die die sogenannten "herrschenden Verhältnisse" ablehnen. Wenn es ein heute noch lebbares Erbe des friedlichen Umbruch von 1989 gibt, dann ist es der Mut und die positive Haltung zu eigenem politischen Engagement. Ich möchte deshalb schließen mit einem Zitat von Vaclav Havel, gefunden am 1.Oktober in der Zeit "Ich habe mein ganzes Leben lang Hoffnung gehabt, das gehört zu meiner Person. Man verliert die Hoffnung nicht, wenn man kritisiert. Die Hoffnung hat man verloren, wenn einem alles egal ist."

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