7. Türchen

Heute stellt uns Anna eine schön Geschichte vor. Sie engagiert sich bei uns mit Argumentationsworkshops oder als Kassenprüferin.


Ich bin mit schlichter Weihnachtsdeko aufgewachsen: Ein Adventskranz, eine uralte Krippe aus Ton und für ein paar Jahre gehörte auch der mit Strohsternen geschmückte Weihnachtsbaum dazu. Seitdem ich in Sachsen wohne, steht natürlich auch ein Schwibbogen im Fenster und dass die schönsten Sterne aus Herrenhut stammen, habe ich auch verinnerlicht.

Weihnachtsbeleuchtung sorgt einfach für eine gemütliche Stimmung in der dunklen und kalten Jahreszeit und die brauchen wir gerade in diesen Zeiten besonders.

Manche übertreiben es aber auch. Meine Nachbarn projizieren aktuell einen Schneemann vor unseren Hauseingang. Einerseits ist es wirklich ulkig, andererseits schäme ich mich etwas fremd und habe den Drang, meine Freundinnen und Freunde zu warnen bevor sie mich besuchen. Den Trend zu immer schrillerer Weihnachtsbeleuchtung überzeichnet die heutige Geschichte. Die geht übrigens auf die Hörspiel-Serie des NDR „Stenkelfeld“ zurück und nach dem Lesen habt ihr bestimmt verstanden, warum die in einen grünen Adventskalender gehört. Viel Spaß beim Lesen.

Anna

Weihnachtsbeleuchtung

Quelle: NDR2, Geschichten aus „Stenkelfeld“

Sonntag, 1. Advent, 10.00 Uhr: In der Reihenhaussiedlung Önkelsteig läßt sich die Rentnerin Erna B. durch ihren Enkel Norbert 3 Elektrokerzen auf der Fensterbank ihres Wohnzimmers installieren. Vorweihnachtliche Stimmung breitet sich aus, die Freude ist groß.

10 Uhr 14: Beim Entleeren des Mülleimers beobachtet Nachbar Ottfried P. die provokante Weihnachtsoffensive und kontert umgehend mit der Aufstellung des 10 armigen dänischen Kerzenset zu je 15 Watt im Küchenfenster. Stunden später erstrahlt die gesamte Siedlung Önkelsteig im besinnlichen Glanz von 134 Fensterdekorationen.

19 Uhr 03: Im 14 km entfernten Kohlekraftwerk Sottrup-Höcklage registriert der wachhabende Ingenieur einen vermeintlichen Defekt der Strommeßgeräte für den Bereich Stenkelfeld-Nord, ist aber zunächst arglos.

20 Uhr 17: Den Eheleuten Horst und Heidi E. gelingt der Anschluß einer Kettenschaltung von 96 Halogen-Filmleuchten durch sämtliche Bäume ihres Obstgartens ans Drehstromnetz. Teile der heimischen Vogelwelt beginnen verwirrt mit dem Nestbau.

20 Uhr 56: Der Discothekenbesitzer Alfons K. sieht sich genötigt seinerseits einen Teil zur vorweihnachtlichen Stimmung beizutragen und montiert auf dem Flachdach seines Bungalows das Laser-Ensemble „Metropolis“, das zu den leistungsstärksten Europas zählt. Die 40m Fassade angrenzender Getreidesilos hält dem Dauerfeuer der Nikolausprojektion mehrere Minuten stand, bevor sie mit einem häßlichen Geräusch zusammenbricht.

21 Uhr 30: Im Jubel einer Weihnachtsfeier im Kohlekraftwerk Sottrup Höcklage verhallt das Alarmsignal aus Generatorhalle 5.

21 Uhr 50: Der 85 jährige Kriegsveteran August R. zaubert mit 190 Flakscheinwerfern des Typs „Varta Volkssturm“ den Stern von Bethlehem an die tiefhängende Wolkendecke.

22 Uhr 12: Eine Gruppe asiatischer Geschäftsleute mit leichtem Gepäck und sommerlicher Bekleidung irrt verängstigt durch die Siedlung Önkelsteig, nachdem zuvor eine Boeing 747 der Singapur Airlines mit dem Ziel Sidney versehentlich auf der mit 3000 Neonröhren gepflasterten Garagenzufahrt der Bäckerei Bröhmeyer niedergegangen war.

22 Uhr 37: Die NASA Raumsonde Voyager 7 funkt vom Rande der Milchstraße Bilder einer angeblichen Supernova auf der nördlichen Erdhalbkugel, die Experten sind ratlos.

22 Uhr 50: Ein leichtes Beben erschüttert die Umgebung des Kohlekraftwerks Sottrup-Höcklage, der gesamte Komplex mit seinen 30 Turbinen läuft mit 350 Megawatt brüllend jenseits der Belastungsgrenze.

23 Uhr 06: In der taghell erleuchteten Siedlung Önkelsteig erwacht Studentin Bettina U. und freut sich irrtümlich über den sonnigen Dezembermorgen. Um genau 23 Uhr 12 betätigt sie den Schalter ihrer Kaffeemaschine.

23 Uhr 12 und 14 Sekunden: In die plötzliche Dunkelheit des gesamten Landkreises Stenkelfeld bricht die Explosion des Kohlekraftwerkes Sottrup-Höcklage wie Donnerhall. Durch die stockfinsteren Ortschaften irren verwirrte Menschen, Menschen wie du und ich, denen eine Kerze auf dem Adventskranz nicht genug war.

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