„Das politisch Feld nicht kampflos den Herren ab 50 überlassen!“

chancenStadträtin Annekathrin Giegengack über frauenpolitische Positionen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen anläßlich einer Veranstaltung zum internationalen Frauentag 2008 im Haus Tietz:

Vor neunzig Jahren brachte die Revolution uns Frauen in Deutschland das Wahlrecht. Ein Jahr später waren bereits 10 Prozent der Abgeordneten der Nationalversammlung Frauen – diese Anzahl, meine Damen und Herren, wurde erst knapp 70 Jahre später nämlich 1987 im Deutschen Bundestag  mit 15,4% Frauenanteil übertroffen.

Motor dieser Entwicklung waren die Grünen, bei denen eine Mindestquotierung von Frauen für alle Ämter und Mandate galt und noch immer gilt.

Heute muss man konstatieren, dass die Veränderungen, die in der Gesellschaft stattgefunden haben, sich nicht in den politischen Institutionen wiederfinden lassen. Der Frauenanteil im Bundestag liegt bei 32%, im sächsischen Landtag und im Chemnitzer Stadtrat nur bei 29%. Im Rahmen der Frauenbewegung wurden zwar viele institutionskritische und demokratische Impulse entwickelt, diese mündeten aber vor allem in Projekten und Modellen im sozialen und kulturellen Bereich und weniger in die traditionellen politischen Institutionen. Schon die Mitarbeit in meiner Partei, den Grünen, wurde in den 80er Jahren noch von vielen Frauen kritisch beurteilt oder sogar abgelehnt. Eine feministische Institutionenanalyse oder eine feministische Demokratietheorie stehen bis heute aus.

Und damit bin ich bei der ersten frauenpolitischen Position unserer Fraktion: Frauen müssen sich mehr Plätze in den Parlamenten und Räten erkämpfen. Mehr Plätze, weil diese nicht per se den Männer vorbehalten sind und erkämpfen, weil dies die Voraussetzung für streitbare politische Arbeit ist. Politik greift die gesellschaftlichen Interessenkonflikte auf und fällt kollektiv bindende Entscheidungen – nicht mehr aber auch nicht weniger. Wenn Frauen wirklich wollen, dass sich etwas verändert, dann müssen sie politische Verantwortung übernehmen, den politischen Raum besetzen, in die traditionellen politischen Institutionen eintreten. Wie wollen wir an der Tatsache, dass Arbeit und Familie häufig schwer miteinander vereinbar sind, etwas ändern, wenn wir dieses Problem nicht permanent politisch aufwerfen? Wenn wir mit der Gleichstellung von Mann und Frau nicht voran kommen, meine Damen und Herren, dann liegt es auch daran, dass wir Frauen das politisch Feld mehr oder weniger kampflos den Herren ab 50 überlassen.

Ein zweiter Punkt ist das Sichtbarmachen der Lebensrealität von Frauen. Ich argumentiere und streite im Rat aus der Lebensperspektive einer 37 jährigen Frau mit einer sechsjährigen Tochter. Diese Lebensperspektive ist im Stadtrat ganz klar unterrepräsentiert. Es ist meiner Meinung nach unglaubwürdig, wenn man einerseits beklagt, die Lebenssituation von Frauen fände  bei politischen Entscheidungen nicht genug Berücksichtigung und andererseits aber nicht bereit ist, die weibliche Lebensperspektive selbst sichtbar zu machen. Eine Politikerin meiner Partei, die schon lange im Geschäft ist, riet mir als ich gerade Stadträtin geworden war: "Wenn du hier wirklich Politik machen willst, erfolgreich, dann musst du dich als Person aufbauen. Denn die pure Anwesenheit von Frauen in Parlamenten und Räten bringt uns keinen Schritt voran." Aufstehen und seine Sichtweise zum Ausdruck bringen, kostet Überwindung und erfordert Selbstvertrauen. Mann / Frau macht sich angreifbar. Die Fähigkeit, von den eigenen Gefühlen abzusehen und nicht alles persönlich zu nehmen, ist eine notwendige Eigenschaft um Politik zu machen und Öffentlichkeitsarbeit ist ein wichtiges Instrument, welches für die Durchsetzung von Interessen beherrscht und eingesetzt werden muss.

Ein dritter Punkt: Für uns Grüne gibt es nicht die "Frauenpolitik" – alles geht Frau etwas an und alles hat mit Frau etwas zu tun. Das bedeutet, Frauen sollten sich in ihrer Kompetenz nicht auf die Bereiche Kunst und Kultur sowie Soziales und Gesundheit selbst reduzieren bzw. reduzieren lassen. Noch immer gelten die Ressorts Wirtschaft, Arbeit, Bau, Verkehr und Finanzen als die "harten" Ressorts, in denen öffentliche, allgemeine und zentrale Fragen verhandelt werden. Auch in Chemnitz sitzen im Verwaltungs- und Finanzausschuss bzw. im Planungs-, Bau- und Umweltausschuss nahezu ausschließlich Männer. Im Sozialausschuss hingegen tummeln sich fast nur Frauen. Und es ist nicht so, dass sie dort gezwungenermaßen sitzen müssten, sie tun es freiwillig. Wie wollen wir Politikerinnen glaubwürdig dafür eintreten, dass Mädchen sich zukunftsträchtigen, wissenschaftlichen und technischen Berufen zuwenden, wenn wir uns selbst beim Politikmachen immer wieder auf den Jugend-, Gesundheits- und Sozialbereich beschränken?

Viertens: Wir Grüne wollen eine aktive Gleichstellungspolitik. Die Problematik der Chancengleichheit muss immer wieder und in allen Bereichen und Politikfeldern aufgeworfen werden. Wir lehnen deshalb einen eigenen Gleichstellungsausschuss oder einen eigenen Gleichstellungsbeirat ab. Chancengleichheit ist kein Sonderthema für einen kleinen Kreis besonders Engagierter. Im Gegenteil, sie ist von zentraler Bedeutung und in unserer beschleunigten und modernisierten Welt längst nicht mehr beschränkt auf die Problematik Mann / Frau. Benachteiligungen liegen heute oftmals quer zu den Geschlechterverhältnissen.

Ich möchte schließen mit einem Zitat von Hannah Arendt: "Die Menschen sind dann Gleiche wenn sie gemeinsam handeln und damit einen Anfang setzen. Die Gleichheit bestimmt sich im Anfangen können und nicht gemäss der Natur." In diesem Sinne –  fangen wir an!

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