Positionspapier zu den COVID19-Konsequenzen für das sächs. Gesundheitswesen

Liebe Alle,

Paula Piechotta und ich haben mit Unterstützung von Tizian, Petra und Kathleen ein Positionspapier für die kurz- und mittelfristig denkbaren Konsequenzen der Corona-Pandemie für das sächsische Gesundheitswesen geschrieben. Bitte meldet uns gern zurück (an thorge.babbe@archiv.gruene-chemnitz.de), wenn ihr bestimmte Punkte diskutieren oder unterstützen möchtet.

Schöne Grüße
Thorge Babbe

Positionspapier

Für ein verbessertes sächsisches Gesundheitswesen nach COVID19

Erstunterzeichner_innen: Dr. Paula Louise Piechotta, Thorge Babbe (Sprecher KV Chemnitz), Petra Čagalj Sejdi (MdL), Tizian Optenberg (Sprecher Landesarbeitsgemeinschaft Soziales und Gesundheit), Kathleen Kuhfuss (MdL)

Krisen offenbaren den Charakter von Gesellschaften und Einzelnen. Sie bringen jahrelang kaschierte Bruchstellen der Gesellschaft ans Tageslicht und sie verstärken bekannte Probleme. Eine der wichtigsten Erkenntnisse der letzten Wochen: Pandemien kann man nur in vertrauensvoller internationaler Kooperation mit Pandemie-Plänen bekämpfen, nicht primär mit dem Krankenhaus vor Ort. Gleichwohl stehen die Schwachstellen unserer Pflegeheime und Kliniken nun im Brennpunkt, da sie in der Abwesenheit einer wirksamen Pandemie-Prävention auf internationaler Ebene die undankbare und große Aufgabe haben, diese Fehler vor Ort zumindest in Teilen abmildern zu müssen. Manche Schwachstellen der hiesigen Pflegeeinrichtungen, Praxen und Kliniken sind seit Jahren bekannt, andere haben sich erst durch die aktuelle Krise gezeigt, alle verlangen sie nach einer politischen Antwort. Im Moment konzentrieren sich berechtigterweise die gesellschaftlichen Debatten auf die notwendigen politischen, auch gesundheitspolitischen Entscheidungen der nächsten Wochen. Wir müssen aber diese Entscheidungen vornehmen mit einer konkreten Vorstellung davon, welche gesellschaftlichen Ziele wir für die Zeit nach der Krise verfolgen. Das gilt auch für unser Gesundheitswesen, das diese Krise nicht nur überstehen muss, sondern aus ihr gerechter, stabiler und mit einer verbesserten Versorgungsqualität hervorgehen sollte. Deswegen sind in diesem Papier sowohl Diskussionspunkte für die nächsten Wochen als auch für die Zeit danach aufgeführt.

Viele dieser Fragen können nur teilweise auf der Ebene der Landespolitik gelöst werden, da die Zuständigkeit zu großen Teilen auf der Bundesebene liegt. Trotzdem gibt es Möglichkeiten, mit denen das Bundesland Sachsen zielgerichtet seine Gesundheitsversorgung verbessern kann sowohl für die reguläre Patientenversorgung nach COVID19 als auch für denkbare weitere Krisen.

Kurzfristige Maßnahmen

1) Das deutsche Gesundheitssystem wird in diesen Wochen für seine große Zahl an Intensivbetten pro Einwohner_innen gelobt. Ein wichtiger Punkt hierbei ist aber: Während im internationalen Vergleich die Zahl der Intensivbetten groß ist, nehmen wir in vielen Auswertungen einen traurigen letzten Platz ein, wenn man die Zahl der Pflegenden pro Patient_in betrachtet: In Deutschland muss eine Pflegekraft im Schnitt 13 Patient_innen versorgen1. In den Niederlanden sind dies nur knapp sieben, in den USA nur knapp fünf. Ein Intensivbett im Krankenhaus ist jedoch wenig wert, wenn Pflegende so überlastet sind, dass sie beispielsweise aufgrund der hohen Arbeitsverdichtung notwendige Hygienemaßnahmen nicht einhalten können. Deswegen ist es richtig, dass jetzt zunehmend medizinisches Personal aus anderen Bereichen geschult wird für eine temporäre Beschäftigung auf Intensivstationen. Wichtig wäre es aber auch, nachhaltige und krisenfeste Dienstpläne für den Pandemie-Fall einzufordern. Reguläre 12-Stunden-Schichten, wie aktuell durch die Bundesregierung ermöglicht, sind einer konzentrierten Patientenversorgung unter erhöhtem Aufwand mit beeinträchtigender Schutzkleidung abträglich, weswegen andere Länder diese bereits im Rahmen der COVID19-Pandemie abgeschafft haben. Eine suffiziente, insbesondere auch psychosoziale Unterstützung der Mitarbeiter_innen und ausreichende Pausen- und Erholungszeiten sind insbesondere im Krisen-Versorgungsfall wichtig, um einen Post-COVID19-Exodus von Fachkräften aus der Pflege und unzählige berufsbedingte Gesundheitsschäden zu vermeiden. Ein einmaliger Pflegebonus für alle Beschäftigten kann ein sinnvolles politisches Signal an alle Beschäftigten im Gesundheitswesen sein, dass die aktuell erhöhte Risikoexposition nicht als selbstverständlich angesehen wird. Er kann aber in keinem Fall faire Arbeitsbedingungen auch in der Krise und ausreichende Schutzkleidung ersetzen. Die aktuellen Aufweichungen des Arbeitsschutzes medizinischen Personals sind nur dann akzeptabel, wenn die lokalen Bedingungen tatsächlich nicht eine Aufrechterhaltung des regulären Arbeitsschutzes zulassen.

Ein besonderes Augenmerk sollte in den aktuellen Wochen auch auf die in Medizin und Pflege Beschäftigten mit besonders hohem Risikoprofil durch besonders starke COVID19-Exposition und/oder eigene Vorerkrankungen liegen. Arbeitgeber_innen müssen hier ausnahmelos ihrer Fürsorgepflicht nachkommen und insbesondere letztere aus den Bereichen der unmittelbaren Patientenversorgung herausnehmen, wenn Schutzkleidung nicht in ausreichendem Maß vorhanden ist. Dies muss gegebenenfalls auch politisch durchgesetzt werden. Für die ambulanten Pflegeeinrichtungen gilt darüber hinaus, dass kurzfristige Einnahmeausfälle auch in diesem Bereich abgemildert werden sollten und eine Vermeidung der Infektionsrisiken hier besonders sorgfältig ausgestaltet werden muss, beispielsweise auch durch eine schwerpunktmäßige Betreuung einer Einrichtung durch jeweils eine Allgemeinmediziner_in.

2) Einmal mehr sehen wir aktuell, dass die Europäische Union neben einer deutlich verbesserten internationalen Gesundheits-Kollaboration eine stärkere auch gesundheitspolitische Koordination innerhalb ihrer Grenzen dringend benötigt. Insbesondere unabgesprochene innereuropäische Grenzschließungen und kontraproduktive Exportbeschränkungen für medizinisches Schutzmaterial hätten vermieden werden können, wenn eine stabile europäische Koordination für den Pandemie-Fall etabliert worden wäre. Es muss das Ziel der nächsten Wochen sein, nicht nur in Fragen bspw. der Pandemie-Erfassung und der gemeinsamen Impfstoff-Entwicklung europäische Entscheidungsgremien zu etablieren, sondern vor allem auch eine belastbare Struktur für ein koordiniertes Vorgehen insbesondere in Fragen der Reise- und Ausgangsbeschränkungen.

3) Wir müssen bereits jetzt unser Gesundheitswesen vorbereiten auf das sehr wahrscheinliche Phänomen nachgelagerter Erkrankungswellen. Hier sind insbesondere die aktuell aufgeschobenen Behandlungen chronischer Erkrankungen, die Folgeerkrankungen nach überstandener COVID19-Infektion und die potentiell ansteigenden Suchterkrankungen zu nennen. Ein besonderes Augenmerk muss hierbei auch dem Kindeswohler beigemessen werden, da diese Gruppe von Geschädigten und Opfern in den meisten Fällen nicht selbstständig zum Arzt gehen kann und von Fachverbänden eine hohe Dunkelziffer erwartet wird.

Auch hierfür müssen politisch unterstützende Maßnahmen auf den Weg gebracht werden, die sich nicht in einer Aussetzung maximaler Wochenarbeitszeiten erschöpfen dürfen.

4) Die aktuellen politischen Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung sind notgedrungen nur unzureichend evidenzbasiert und ihre negativen gesundheitlichen Folgen für die allgemeine Bevölkerung unbekannt. In dieser Situation ist es zwingend notwendig, die derzeitigen Maßnahmen kontinuierlich wissenschaftlich und politisch zu evaluieren, um insbesondere auch unerwartete negative Folgen zeitnah detektieren und ggf. nachsteuern zu können. Dies schließt insbesondere auch eine Evaluation aller COVID19-bedingten Gesundheitsgefährdungen von Arbeitnehmer_innen ein, eine Evaluation der gesundheitlichen Schäden chronisch somatisch oder psychisch Erkrankter, gesundheitliche Schäden von Schwangeren durch Kreißsaal-Verbote von Partner_innen und eine Evaluation Kontaktsperren-bedingter Neuerkrankungen und Gewaltverbrechen. Es muss auch auf landespolitischer Ebene tagesaktuell die neu verfügbare wissenschaftliche Evidenz daraufhin geprüft werden, ob auf ihrer Grundlage Maßnahmen der Pandemie-Eindämmung nachgesteuert werden können.

Daneben wird zunehmend klar, dass die aktuellen Zahlen zu Infektionsfällen, aber auch zu Krankenhausaufnahmen und COVID19-bedingten Todesfällen zu relevanten Teilen nicht ausreichend belastbar sind, um eine suffiziente Grundlage für politische Entscheidungsprozesse darstellen zu können. Eine zentrale Bedeutung kommt hierbei bislang nicht verfügbaren repräsentativen Studien zur tatsächlichen regionalen Häufigkeit von COVID19-Infektionen in der sächsischen Allgemeinbevölkerung zu. Außerdem muss zeitnah zumindest für die Dauer der Pandemie eine deutliche Stärkung klinischer Obduktionen und eine lückenlose Qualitätssicherung der Leichenschau etabliert werden, um eine ggf. gesteigerte Sterblichkeit aufgrund einer COVID19-Infektion differenzieren zu können von einer ggf. gesteigerten Sterblichkeit aufgrund der gesellschaftlichen Folgewirkungen der Pandemie. Das schafft die Grundlage für evidenzbasiertere politische Entscheidungen in der aktuellen Krise und kann wichtige Grundlagen für künftige Pandemie-Krisenpläne legen.

5) In der aktuellen Pandemie-Situation kommen Polizei und kommunalen Ordnungsbehörden Aufgaben des Schutzes der öffentlichen Gesundheit zu. Offensichtlich sind aber relevante Teile hierfür nicht ausreichend geschult und werden so einerseits selbst zum Infektionsrisiko, andererseits findet keine sinnvolle Unterscheidung zwischen infektionsrelevanten und -irrelevanten Verhaltensweisen der Bevölkerung statt. Vor diesem Hintergrund muss mit großer zeitlicher Dringlichkeit eine deutlich verbesserte Schulung der entsprechenden Beschäftigten erfolgen, um einerseits durch sie entstandene Infektionsrisiken zu vermeiden und andererseits unnötige Eingriffe in die Bürgerrechte der Bevölkerung zu verhindern.

6) Es ist aktuell eine verstärkte Zusammenarbeit wissenschaftlicher Akteur_innen mit politischen Entscheider_innen und umgekehrt zu beobachten. Diese ist begrüßenswert. Es ist jedoch in jedem Fall zu beachten, dass politische Beratung in der aktuellen Pandemie-Situation nicht lediglich durch Vertreter_innen einzelner Fachgebiete erfolgen sollte, denn Pandemiepolitik ist Gesellschaftspolitik, Rechtspolitik, Gesundheitspolitik, Familienpolitik etc. in einem. Aus gesundheitspolitischer Perspektive sollte insbesondere auch auf eine ausreichende Konsultation von Vertreter_innen der Public Health/Versorgungsforschung, der Pflegeforschung und der Krankenhaushygiene geachtet werden.

Mittelfristige Perspektiven

1) Personalmangel und Ausbildung

Sachsen schafft es im Moment nur mit ausländischen Fachkräften seinen Personalbedarf im Gesundheitssystem zu decken. Viele hier ausgebildete Fachkräfte verlassen Sachsen, um in anderen Bundesländern oder Ländern zu arbeiten, da die Bezahlung dort besser ist und die Arbeitsbedingungen attraktiver sind. Die aktuellen Grenzschließungen haben gezeigt, wie abhängig insbesondere Einrichtungen im Erzgebirge und im Vogtland von ihren pendelnden Fachkräften sind.

Aus unserer Sicht muss Sachsen erheblich mehr dafür tun, dass Beschäftigte im Gesundheitswesen hier faire Arbeitsbedingungen mit guten Tariflöhnen vorfinden, damit sie auch dauerhaft hier arbeiten wollen. Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass wir uns für eine Reduktion der Beschäftigten aus anderen EU-Ländern einsetzen, denn die Arbeitnehmer_innen-Freizügigkeit innerhalb der EU ist ein hohes Gut, solang dadurch keine Unterversorgung in den Nachbarländern entsteht. Darüber hinaus wollen wir insbesondere für nicht-wissenschaftliches medizinisches Personal über zusätzliche Ausbildungsstandorte, auch im Raum Südwestsachsen, werben. Wir werden die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen insbesondere auch durch eine kontinuierliche Weiterqualifikation des gesamten Personals mit Aufstiegsmöglichkeiten, die Erhöhung der Kompetenzen nicht-ärztlichen Personals in multiprofessionellen Behandlungsteams auch durch die zunehmende Akademisierung nicht-ärztlicher Gesundheitsberufe, Telemedizin und insbesondere in der Pflege gesundheitserhaltende Arbeitshilfen wie bspw. Pflegerobotik aufwerten. Verbesserte Arbeitsbedingungen müssen auch eine Reduktion der Wochenend- und Nachtdienste auf ein notwendiges Mindest-Maß beinhalten.

Im Gegensatz zum pflegerischen Personal ist die Zahl beschäftigter Ärzt_innen in Sachsen in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Trotzdem sind in mehreren Fachbereichen von Allgemeinmedizin über Augenheilkunde und Öffentliches Gesundheitswesen bis Kinder- und Jugendpsychiatrie drohende massive Unterversorgungen erkennbar. Hier muss die Landespolitik gemeinsam mit den Akteur_innen der Selbstversorgung deutlich aktiver werden, um insbesondere die Attraktivität der ambulanten Versorgungstätigkeit deutlich zu erhöhen, denn Sachsen hat aktuell noch keinen generellen Mangel an Ärzt_innen, sondern an Ärzt_innen bestimmter Fachrichtungen. Deswegen müssen Maßnahmen zur Behebung dieses Umstandes auch zuerst bei der Förderung der Weiterbildungskapazitäten und -Bedingungen ansetzen. Im Vergleich dazu hat eine mögliche Erhöhung von Humanmedizin-Studienplätzen nur eine geringe Steuerungswirkung. Zu diesem Zweck sind spezialisierte Weiterbildungs-Zentren mit koordinierten Weiterbildungsangeboten und Einrichtungen der Versorgungsforschung bspw. in Südwestsachsen denkbar. Kooperationen der Humanmedizin-Ausbildung mit einem autoritären Staat wie Ungarn, die auch vor dem Hintergrund der Bildungsgerechtigkeit und dem Grundrecht der freien Berufswahl problematisch sind, können unserer Meinung nach keinen suffizienten Beitrag zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung leisten.

2) Krisenfeste Versorgung mit medizinischen und pflegerischen Produkten

In der jetzigen Situation zeigt sich, dass niedergelassene Ärzt_innen, Pflege- und Altersheime nicht auf eine Pandemie vorbereitet waren und die notwendige Schutzausrüstung nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung steht, um sowohl Mitarbeiter_innen als auch Patient_innen vor Ansteckungen zu schützen. Der Freistaat Sachsen wird hier nach den aktuellen Erfahrungen eine Reserve für denkbare zukünftige Pandemie-Fälle anlegen. Wichtig ist dabei aber auch, dass nicht nur Schutzausrüstung bevorratet wird, die im aktuellen Pandemie-Fall notwendig war, sondern auch i.R. wahrscheinlicher alternativer Pandemie-Szenarien weitere Schutzausrüstungsartikel in ausreichender Menge bevorratet werden.

Die aktuelle Versorgungsproblematik mit Schutzausrüstung liegt in Teilen auch darin begründet, dass in den vergangenen Jahren in der medizinischen und pflegerischen Versorgung zunehmend von sterilisierbaren Mehrwegartikeln auf Einwegartikeln umgestellt wurde. Das ist einerseits begründbar mit den bekannten Einsparungen in den Sterilisations-Einheiten der Kliniken mit daraus resultierenden Sterilisations-Mängeln, andererseits aber auch mit den sehr niedrigen Einkaufspreisen der Einwegartikel. Die Problematik nicht krisenfester globalisierter Lieferketten ist in den letzten Wochen hinreichend diskutiert worden und es ist richtig, zukünftig stärker auf dezentrale Lieferketten zu setzen. Man muss aber auch überlegen, ob die steigenden Mengen medizinischer Müllproduktion in Zukunft reduziert werden können durch eine Bevorzugung mehrfach verwendbarer Produkte in den Fällen, in denen dies sinnvoll umsetzbar ist. Auch dies könnte die Abhängigkeit von internationalen Lieferketten deutlich reduzieren. Voraussetzung dafür sind jedoch Sterilisations-Einrichtungen, die höchsten Qualitätskontrollen unterliegen.

3) Eine neue Ära in Krankenhaus- und Pflegeheim-Hygiene

Wir haben jahrelang die Notwendigkeit einer konsequenteren Bekämpfung multiresistenter Keime und hierdurch bedingter Todesfälle diskutiert. Nicht zuletzt aufgrund schlechter Pflege-Arbeitsbedingungen und eingeschränkter Sensibilität großer Teile der politischen Entscheider_innen konnten bei der Verbesserung der Krankenhaus- und Pflegeheim-Hygiene jedoch nur Teilerfolge erzielt werden. Die aktuelle Krise hat das große Potential, die Hygiene-Sensibilität der Beschäftigten im Gesundheitswesen aber auch der politischen Akteur_innen nachhaltig zu erhöhen und auch nach der Krise die Grundlage für eine deutlich verbesserte Hygiene-Kultur mit deutlich gesteigerten Ressourcen für die gezielte und umfassende Bekämpfung multiresistenter und neuartiger Erreger zu legen.

Des Weiteren ist es wichtig, nicht nur das Klinikpersonal, sondern ebenso die Angestellten in Alten- und Pflegeheimen, aber auch in Schulen in Hygienefragen auszubilden. Die aktuell stark sinkenden Zahlen von Influenzaerkrankungen legen nahe, dass das Gesundheitswesen in der Grippe- und Erkältungs-Saison erheblich entlastet werden könnte, wenn sich durch verbesserte Hygiene-Maßnahmen weniger Menschen anstecken.

4) Krankenhausplanung muss sich an der Regelversorgung orientieren

Bereits in den ersten Wochen der COVID19-Pandemie versuchten sowohl politische Akteur_innen als auch Lobbyist_innen, die aktuelle Krise für eine Beeinflussung zukünftiger Krankenhaus-Planungen zu instrumentalisieren. Wahr bleibt aber, dass kein noch so gigantisches Gesundheitssystem einer ungebremsten Pandemie standhalten könnte, denn Pandemien kann man sinnvollerweise nur mit Pandemie-Plänen bekämpfen, aber nicht mit dem Krankenhaus vor Ort. Zu Pandemieplänen können sinnvollerweise temporäre Not-Kliniken und die Katastrophen-getriggerte Bereitstellung medizinischen Materials gehören. Eine einseitige Ausrichtung der Regelversorgung an einem immer nur in Teilen antizipierbaren Pandemie-Fall riskiert jedoch, dass Überkapazitäten im Gesundheitswesen entstehen, die Patient_innen additiven Risiken durch Überversorgung aussetzen und wichtige Ressourcen insbesondere für die Prävention und Behandlung chronischer Erkrankungen binden.

Daneben haben die aktuellen Entwicklungen gezeigt, dass Kliniken unterschiedlich schnell die politisch geforderten Maßnahmen i.R. der Pandemie-Reaktion umsetzten, insbesondere auch aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen. Diese Unterschiede müssen evaluiert werden und geeignete Maßnahmen zur erhöhten Compliance der Klinik-Geschäftsführungen mit exekutiven Bestimmungen im Pandemie-Fall gefunden werden. Dies schließt auch eine Evaluation von Fehlanreizen durch das DRG-System und eine verbessertes Monitoring der Landesbehörden bez. medizinischer Behandlungskapazitäten ein.

5) Eine stärkere Investition in Krankheits-Prävention, Gesundheitsämter und Gesundheitsbildung

Die aktuelle Krise ist auch eine Krise der kommunalen Gesundheitsämter. Ihre Unterfinanzierung und damit einhergehend personell eklatante Unterbesetzung, die unter anderem durch Bündnis 90/Die Grünen jahrelang problematisiert wurde, rächt sich in der aktuellen Situation mehrfach. Politische Entscheider_innen müssen endlich anerkennen, dass eine Stärkung der Gesundheitsämter nur mit einer deutlich verbesserten Finanzierung und attraktiveren Arbeitsbedingungen derselben erreichbar ist und krisenfeste Gesundheitsämter zwingend notwendig sind. Entsprechende Aufwertungen der Arbeit der Gesundheitsämter können kurzfristig umgesetzt werden. Im sozialpolitischen Bereich ist eine Stärkung der kommunalen Jugend- und Sozialämter ähnlich notwendig.

Die COVID19-Pandemie hat schmerzhaft vor Augen geführt, wie stark in den vergangenen Jahrzehnten gesundheitliche Aufklärung und Prävention vernachlässigt wurden. Wochenlang mussten grundlegendste Selbstverständlichkeiten wie korrektes Händewaschen und Hustenhygiene in aufwendigen Informationskampagnen kommuniziert werden. Wichtige Informationen wie die Empfehlungen zur Pneumokokken-Impfung erreichten nur Teile der Zielgruppe. Gleichzeitig wurden enorme Kommunikationskapazitäten gebunden durch die Notwendigkeit gezielter Bekämpfung gesundheitsbezogener Missinformations-Kampagnen.

Perspektivisch müssen sowohl in schulischen als auch in allgemeinen gesellschaftlichen Kontexten die Kapazitäten für gesundheitliche Aufklärung und die Bekämpfung gesundheitsbezogener Missinformationen deutlich ausgebaut werden. Daneben müssen die bereits vor der Pandemie begonnenen Initiativen zur Erhöhung der Impfraten deutlich ausgeweitet werden.

6) Für einen größeren Pluralismus staatlicher Institutionen des Infektionsschutzes und der öffentlichen Gesundheitspflege

Die aktuelle Krise hat sowohl Stärken als auch punktuelle Schwächen des deutschen Föderalismus in Krisen-Situationen aufgezeigt. Dem Robert-Koch-Institut kommt in der aktuellen Pandemie-Reaktion von Bund und Ländern eine zentrale Rolle u.a. in der Datenerhebung, der Maßnahmen-Kommunikation und der Beratung politischer Entscheider_innen zu. Während es direkt dem BMG unterstellt ist müssen 16 Bundesländer ebenfalls weitreichende, regional angepasste Entscheidungen treffen, ohne dass sie direkt auf vergleichbare Strukturen zurückgreifen können. In allen Bundesländern ist vor diesem Hintergrund ein punktueller Rückgriff auf Wissenschaftler_innen landeseigener Universitäten u.ä. zu verzeichnen. Für eine größere Pluralität der wissenschaftlichen Expertise in vergleichbaren Krisenfällen möchten wir einen Diskussionsprozess anregen über eine Institution der Länder, bspw. auf Basis eines Länderstaatsvertrags, die analog zu den Aufgaben des Robert-Koch-Instituts die Beratung und fachliche Unterstützung der Bundesländer realisiert. Diese könnte insbesondere zentrale Aufgaben in der Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten sowie deren epidemiologisches Monitoring beinhalten.

Unterstützer_innen:

Dr. Ulrike Böhm

Johannes Spenn

1 Schreyögg et al., Expertise zur Quantifizierung der Pflegezahlen in Deutschland sowie zum Überblick über die normative Bestimmung des Pflegebedarfes in ausgewählten OECD-Ländernim Auftrag der Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) Hamburg, März 2016. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Pflege/Berichte/Gutachten_Pflegebericht.pdf

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